Hitch Hiking mit Herz
- susanneschiffauer
- 9. Jan.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Jan.

Das kommt davon, wenn man um 15:30 Uhr schon Prosecco trinkt…
Sehr beschwingt und bester Dinge blicke ich über den glitzernden Comer See, während ich mich in der Hotel Bar auf zwei Tage Italien einstimme. Ein Blick auf die Uhr und in den Online-Fahrplan der Fähren von unserem Hotel zum Anleger von Como veranlassen meinen Mann zu dem Vorschlag: „Wir nehmen jetzt die Fähre entweder in 8 Minuten oder in 48 Minuten.“ Klarer Fall – Gas geben und los.
Schließlich wollen wir noch etwas von dem schönen Ort erleben, der sich so wundervoll an die Bucht des Sees anschmiegt.
Der Weihnachtsmarkt sei noch in Betrieb, verriet uns der Concierge Mattia Pizzagallo (ein Name, den man sich nicht ausdenken kann!) bereits beim Check-in, und überall gäbe es wunderschöne Weihnachtsdekoration. Von den schönen Geschäften, Restaurants, Bars und gemütlichen Plätzen ganz zu schweigen…

Los, los, los!
Wir schaffen es an den Steg, pünktlich eine Minute vor Abfahrtszeit, bitten die Signora im Verkaufsbüdchen um zwei Tickets für die Überfahrt nach Como – und stoßen auf verständnisvolle, aber bedauernde Blicke. Die Fähre sei gerade losgefahren. Ob wir auf die nächste warten wollten, die in einer knappen Dreiviertelstunde übersetzen würde? Wir schauen ratlos. Auf das Internet ist eben nicht immer und überall Verlass. Die zuvor recherchierten Zeiten stimmen nicht mit der italienischen Realität überein.
Was nun? Der nächste Bus kommt erst in 25 Minuten. Das Taxi erschien uns ungewöhnlich hochpreisig… Also fasse ich kurzerhand einen Entschluss und strecke meinen Daumen in die Höhe.
"Trampen", wie Hitchhiking einst hieß, ist eine wunderbare Lösung, finde ich: sehr demokratisch und irgendwie wundervoll unmodern, vor allem für eine „alte Tante“ wie mich.
Denn apropos alt – was soll mir schon noch passieren? Doch vorsichtshalber schiebe ich unauffällig mein Hochzeitstagsarmband unter den Pulloverärmel…
Es dauert keine Minute, bis ein schwarzer Volvo anhält. Hinter dem Steur sitzt eine exotisch aussehende Frau mit raspelkurzem Haar und einem warmen Lächeln. Mit einer einladenden Handbewegung signalisiert sie uns: Natürlich nimmt sie uns mit in die Stadt. Ihr Englisch ist gebrochen, mein Italienisch ein Mischmasch aus Französisch und Spanisch. Dennoch fühle ich mich sofort zu dieser tropisch anmutenden Erscheinung hingezogen. Ihre Ausstrahlung ist voller Lebensfreude. Und Lebensfreude ist ansteckend.

Ein Lächeln und eine einladende Handbewegung - das Leben meint es gut mit uns.
Ich freue mich diebisch und steige beschwingt – und: nicht zu vergessen, leicht beschwipst – in den Wagen ein, während mein Mann auf dem Rücksitz Platz nimmt und nicht so recht weiß, wie ihm geschieht. Typisch unser Leben eben.
Entlang des wunderschönen Sees geht es die geschwungene Straße hinunter ins Örtchen. Ich freue mich auf den Duomo und die malerischen Plätze, auf Weihnachtsstimmung und ein Abendessen zu zweit in einer Trattoria. Zu unserer Rechten erhebt sich der Berg mit seinen Pinien, zu unserer Linken säumen Palmen den See. Vor uns funkelt das Wasser, während die untergehende Sonne die kalte Dezemberluft in ein goldenes Licht hüllt.
Ein Moment wie aus dem Bilderbuch.
Im Radio läuft Reggae, der Bordbildschirm zeigt das dazugehörige Video. "Fancy," denke ich und lächle die Frau an. Sie strahlt zurück, stellt die Musik lauter, unsere Unterhaltung beginnt.
Die Autofahrt ist kurz. Und doch fühlt sie sich an wie ein kleines Leben. Als wir schließlich an einem großen, wunderschön bepflanzten Platz ankommen, verabschiede ich mich spontan mit einer Umarmung.
In diesen wenigen Minuten teilt sie so viel mit uns. Ihre Geschichte berührt mich tief berührt. Im Schnelldurchgang berichtet sie: Sie kommt aus Sri Lanka, lebt seit 32 Jahren in Italien, ihre Tochter studiert in Australien Sport und möchte danach in der Schweiz als Physiotherapeutin arbeiten. Hier in Italien hat sie keine Familie mehr. Sie freut sich auf einen ruhigen Abend zu Hause, denn gestern war sie feiern – „Fiesta, Fiesta and Dance“. Ein Lachen wie ein Sommersonnennachmittag!
Zu Hause warte niemand, ergänzt sie. Und in diesem Moment verändert sich etwas in ihr. Ihr Mann ist vor drei Jahren an COVID gestorben. Sie schluckt schwer.
„Life is so, so…“
Sie ringt nach Worten, Tränen treten ihr in die Augen, und sie wischt sie beschämt weg. „I am so sorry for your loss,“ sage ich, denn ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Es tut mir so leid. „What you must have been through in the past years!“ Ich fühle mit ihr, spüre die Tränen in mir aufsteigen, während sie gegen ihre ankämpft. „Life is so, so…,“ sagt sie immer wieder.
Wie aus dem Nichts erzählt sie dann, dass sie letztes Jahr Krebs hatte – doch sie habe ihn überlebt. In ihren Augen spiegelt sich dennoch eine leise Sorge.
Was auf den ersten Blick wie eine freche Annie-Lennox-Frisur aussieht, ist tatsächlich der Beweis eines harten Weges, der hinter ihr liegt.
Sie fährt sich lässig lächelnd mit der Hand durch ihr kurzgeschorenes Haar. "It´s growing all back now." Ein Knoten schnürt mir die Kehle zu, während ich denke: Hoffentlich wird alles gut. Diese schreckliche, schreckliche Krankheit...
Ein wenig Smalltalk, ganz viel Sympathie, Lebensfreude – und so viel Unglück - das geballte Leben in nur 10 Minuten Autofahrt.

Für einen kurzen Moment kreuzen sich unsere Leben und bleiben so für immer miteinander verwoben.
Wie die Maori sagen: „Wir alle sind verbunden.“ Damit drücken sie aus, dass jede Begegnung – auch mit Fremden – eine Bedeutung hat und uns alle in einem unsichtbaren Netz von Beziehungen hält. Während meiner Zeit in Neuseeland habe ich diese Idee vielerorts erlebt und geschätzt.
Jede Begegnung kann unser Leben bereichern, wenn wir uns nur darauf einlassen.
Manchmal schauen wir uns auf der Straße an, manchmal weg. Manchmal lächeln wir uns zu – immer die bessere Variante. Oftmals denken wir, wir seien einmalig, anders, aber tatsächlich haben wir alle so viel gemeinsam. Sehnsüchte, Ängste, Lieben, Freude - all diese Gefühle einen uns doch!
Wenn wir uns nur öfter fragen, warum jemand bissig oder traurig schaut! Denn die Antwort lautet doch oft: Kummer. Sorge. Oder natürlich "resting bitch face". ;-) In jedem Fall lohnt es sich, offen zu bleiben, optimistisch, menschlich, zugewandt.
Als ich meinen Daumen in die kalte Winterluft hoch hielt, hätte ich nicht gedacht, welch schöne, traurige und herzliche Erfahrung ich machen würde.
48 Stunden Italien. 10 Minuten davon werde ich immer wieder in meinem Herzen bewegen – und die Frage: Wie geht es ihr jetzt wohl, meiner kurzen Bekanntschaft aus Sri Lanka? Ihren Namen habe ich übrigens in letzter Minute noch erfragt: Sie heißt Sanoya. Ihr Name bedeutet „Ewigkeit“. Ein Name, der mir ewig in Erinnerung bleiben wird.


Photos: Susanne Schiffauer
Intro Photo: Aaron Blanco Tejedor via Unsplash
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